KOMMENTAR I
Roberto Bartoli
„Dann ist das Gericht zu Ende”Rechtliche Betrachtungen zu Kafkas Erzählung „In der Strafkolonie
ˮ
Den Studenten meines Kurses Strafrecht 1 im akad.
Jahr 2012/2013 und ihrem Wunsch „zu verstehen
ˮ
gewidmet
1. Kurze Betrachtungen zum Verhältnis
von Literatur und Recht
Franz Kafkas Erzählung In der Strafkolonie ist ein Werk, das
vielfältige Ansatzpunkte zum Verständnis der Beziehungen zwi
schen Literatur und Recht bietet.
Vor allem gestattet es, allgemein betrachtet, zumindest die Klä
-
rung zweier unterschiedlicher Sichtweisen, mit denen die Litera
tur sich dem Recht nähern kann. Einerseits nämlich kann die Li
teratur sich mit dem Recht in der Weise befassen, dass sie eine
Sichtweise einnimmt, die man als wertende in dem Sinne be
zeichnen könnte, dass das literarische Werk dazu neigt, eine wer
tende Position (als gut oder böse, als recht oder unrecht) gegen
-
über einer bestimmten Rechtsposition einzunehmen. Aus dieser
Sicht wird die Literatur selbst gleichsam von der rechtlichen Di
mension aufgesogen und ist letztlich immer noch eine „juristi
sche
”
Art, sich mit dem Recht zu befassen. Der Gedanke, der
dieser Sichtweise zugrunde liegt, ist im Wesentlichen der, dass
Literatur, die sich mit dem Recht befasst, für eine bestimmte
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Rechtsposition Partei ergreifen soll (muss?), indem sie sich zu
gunsten einer bestimmten Auffassung ausspricht und eine andere
verwirft.
Zum anderen kann die Literatur sich in der Weise mit dem Recht
befassen, dass sie eine Sichtweise einnimmt, die man als enthül
lende bzw. offenbarende bezeichnen könnte, da sie darauf zielt,
aus der Literatur ein Instrument der Entmystifizierung des Rechts
zu machen, indem das literarische Werk dazu neigt, jenseits aller
Wertung als gut oder böse, als recht oder unrecht das zu zeigen,
was eine bestimmte rechtliche Realität ihrem Wesen nach wirk
lich ist. Aus dieser Sicht bleibt die Literatur gegenüber dem
Recht die „Andere
ˮ
–
was bedeutet, dass sie nicht Teilhaberin an
dessen wertender Dimension ist, während sie eine Demaskie
rungs
-
Funktion im Hinblick auf das ausübt, was man als Recht
ansieht, indem sie dessen reales Gesicht deutlich macht. Der Ge
danke, der dieser Sichtweise zugrunde liegt, ist im Wesentlichen
der, dass die Literatur, die sich mit dem Recht befasst, nicht Par
tei für eine bestimmte Rechtsauffassung ergreift, sondern das
zeigen möchte, was das Recht in Wirklichkeit ist, unabhängig
von allen wertenden Vorstellungen
–
vielleicht sollte man sogar
von allen Illusionen oder gar Täuschungen sprechen
–
, welche
man über es verbreiten will.
Zum zweiten gibt die hier betrachtete Erzählung
–
immer noch
aus allgemeiner Sicht
–
die Möglichkeit, die verschiedenen her
meneutischen Vorgehensweisen, welche bei der Interpretation
eines literarischen Textes angewendet werden können, und ihre
Beziehung zu den Vorgehensweisen, welche die juristische Inter
pretation kennzeichnen, einer kritischen Prüfung zu unterziehen.
Dringt man zum Kern des Problems vor, so kann man nämlich
bemerken, dass gleichermaßen wie beim Recht auch bei der Lite
ratur tendenziell unterschieden wird zwischen Wortlautinterpreta
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tionen, welche am Text festhalten, und Interpretationen, welche
über den Text hinausgehen, um sich gleichsam für dessen Kontext
zu öffnen. In der Literatur scheinen freilich
–
und in diesem
Punkt abweichend von dem, was im Recht der Fall ist
–
vor allem
die Interpretationen des zuerst genannten Typs diejenigen zu sein,
welche nicht nur am besten zu ihrer „wertenden
”
, „enthüllenden
”
Funktion passen, sondern auch Schutzwälle gegen rein subjektive
Interpretationen errichten. Anders ausgedrückt: Während im
Recht der Abstand vom Text und die Öffnung zum Kontext
–
mit
der daraus folgenden Verlagerung zu Kriterien eher materiellen
Charakters (man denke nur an den Zweck der Norm)
–
es ermög
lichen, sich der Realität und ihren Veränderungen zu öffnen, sind
es in der Literatur vor allem die zentrale Bedeutung des Textes
und das Festhalten an ihm, welche es ermöglichen, die tiefgrün
dige Lebenswirklichkeit, die in ihm beschlossen ist, hervortreten
zu lassen. Während also, kurz gesagt, der rechtliche Text die
Wirklichkeit tötet, welche durch die Interpretation Lebendigkeit
zurückgewinnt, bewacht der literarische Text in seinem Innern
eine Lebenswirklichkeit, welche eine vom Text losgelöste Inter
pretation zu entwerten Gefahr läuft.
Schließlich muss man mit Blick auf das spezielle Werk, das Ge
genstand dieser Überlegungen ist, annehmen
–
und zwar gerade
weil dieses, wie wir sehen werden, den enthüllenden Blick auf
das Recht besonders gut zum Ausdruck bringt, wenn man es in
enger Bindung an den Text interpretiert
–
, dass die Erzählung In
der Strafkolonie einen wesentlichen Beitrag liefert, um zu verste
hen, was die Strafe und das System des Bestrafens „wirklich
ˮ
sei,
und damit ermöglicht, den „Mythos
ˮ
, wonach man durch ihre
Anwendung Gerechtigkeit herstellt, zu überprüfen oder, je nach
Sichtweise, die Realität, dass die Gerechtigkeit nicht auf den My
thos verzichten kann.
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2. Zusammenfassung der Erzählung
Die Struktur der Erzählung beeindruckt durch ihre Geschlossen
heit
1
. Sie gliedert sich in vier Teile (im Folgenden durch eine
Zahl bezeichnet), denen jedes Mal eine Art von „Einschub
”
vor
angeht (im Folgenden durch einen Buchstaben bezeichnet), wel
cher jeweils eine vom unterschiedlichen Erzählzweck abhängen
de besondere Gestaltung annimmt.
a) Den ersten Einschub bildet die Eröffnung der Erzählung (S. 3
-
4), deren Zweck es ist, den Leser in die Strafkolonie „hinabzusto
-
ßen
ˮ
. Mittels der Worte des Offiziers wird sogleich der „Apparat
”
eingeführt, wie auch alle beteiligten Personen (Offizier, Reisen
der, Kommandant, Verurteilter und Soldat) mit ihren wesentli
chen Merkmalen (Eifer und Hektik des Offiziers, Desinteresse
des Reisenden, Teilnahmslosigkeit des Kommandanten) und der
Raum (nicht aber die Zeit), in dem die Erzählung sich abspielt,
auftreten. Die Eröffnung schließt mit einer Art von Epiphanie im
Hinblick auf die Maschine und auf die Vorgänge, deren Darstel
ler sie sein wird: „Wenn aber auch Störungen vorkommen
ˮ
, be
merkt der Offizier, „so sind sie doch nur ganz kleine, und sie
werden sofort behoben sein
ˮ
. Bekanntlich werden die Dinge sich
nicht so entwickeln, der Schaden wird eintreten, und er wird nicht
zu beheben sein.
1) Der erste Teil der Erzählung ist ganz auf das Funktionieren des
Apparates konzentriert (5
-
15)
. Er lässt sich in drei Einheiten auf
teilen. Die erste (S. 5
-
7) führt durch den Hinweis auf die Gestalt
des früheren Kommandanten die Ordnung der Kolonie in ihrer
1 Zitate und Seitenzahlen beziehen sich auf den in diesem Band abge
druckten Text der Erzählung
.
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„Unveränderlichkeit
”
ein
2
und beschreibt die komplexe Struktur
des Apparates (die Egge, das Bett, der Zeichner)
3
sowie dessen
generelles Funktionieren, das er in dem folgenden Satz zusam
menfasst: „Dieser Egge aber
ˮ
, also jenem Teil, der in das lebende
Fleisch des Verurteilten einschreibt, „ist die eigentliche Ausfüh
rung des Urteils überlassen
ˮ
(7)
.
Die zweite Einheit ist eine Art Einschub und betrifft die von dem
Reisenden erbetene Beschreibung des Urteils, des „gerichtlichen
”
Verfahrens, aus dem dieses hervorgegangen ist, und des konkre
ten Falles des Verurteilten (7
-
11)
. Das Urteil „klingt nicht
streng
”
. Dem Verurteilten wird das Gebot, das er übertreten hat,
mit der Egge auf den Leib geschrieben [
…
]:
‘
Ehre deinen Vorge
-
2 Der Offizier berichtet: „Das Verdienst der Erfindung gebührt ihm ganz
allein. Haben Sie von unserem früheren Kommandanten gehört?
Nicht? Nun, ich behaupte nicht zu viel, wenn ich sage, daß die Ein
richtung der ganzen Strafkolonie sein Werk ist. Wir, seine Freunde,
wußten schon bei seinem Tod, daß die Einrichtung der Kolonie so in
sich geschlossen ist, daß sein Nachfolger, und habe er tausend neue
Pläne im Kopf, wenigstens während vieler Jahre nichts von dem Alten
wird abändern können
ˮ
(5)
.
3 „Ja, die Egge
”
, sagte der Offizier, „der Name paßt. Die Nadeln sind
eggenartig angeordnet, auch wird das Ganze wie eine Egge geführt,
wenn auch bloß auf einem Platz und viel kunstgemäßer. [
…
] Hier auf
das Bett wird der Verurteilte gelegt. [
…
] Es ist ganz und gar mit einer
Watteschicht bedeckt. [
…
] Auf diese Watte wird der Verurteilte
bäuchlings gelegt, natürlich nackt; hier sind für die Hände, hier für die
Füße, hier für den Hals Riemen. Hier am Kopfende des Bettes, wo der
Mann, wie ich gesagt habe, zuerst mit dem Gesicht aufliegt, , ist dieser
kleine Filzstumpf, der leicht so reguliert werden kann, daß er dem
Mann gerade in den Mund dringt
ˮ
. Schließlich liefert der Erzähler
selbst noch ein Gesamtbild: „Das Bett und der Zeichner hatten glei
chen Umfang und sahen wie zwei dunkle Truhen aus. Der Zeichner
war etwa zwei Meter über dem Bett angebracht; neide waren in den
Ecken durch vier Messingstangen verbunden, die in der Sonne fast
Strahlen warfen. Zwischen den Truhen schwebte an einem Stahlband
die Egge
”
(6f.
)
.
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setzten
’”
(8)
. Der Verurteilte kennt sein Urteil nicht, denn „es
wäre nutzlos, es ihm zu verkünden. Er erfährt es ja auf seinem
Leib
ˮ
(9)
. Der Gefangene hat nicht die Möglichkeit besessen,
sich zu verteidigen, er weiß nicht einmal, dass er verurteilt ist,
denn „der Grundsatz [jeder Entscheidung] ist: Die Schuld ist im
mer zweifellos
”
(10)
.
In der dritten und letzten Einheit des ersten Teils (S. 11
-
15), wo
rin der Reisende eine gewisse Unschlüssigkeit zeigt („Die Mittei
lungen über das Gerichtsverfahren hatten ihn nicht befriedigt
”
[11]), wird die detaillierte Erläuterung der Funktionsweise der
Maschine fortgesetzt. Nachdem klargestellt ist, dass „ein Nicht
eingeweihter [
…
] äußerlich keinen Unterschied in den Strafen
[merkt]
”
(11), wird „die Zeichnung, auf welche das Urteil lautet
“
,
beschrieben, deren Schrift der Reisende aber zu entziffern nicht
in der Lage ist, denn sie ist, wie der Offizier präzisiert, „keine
Schönschrift für Schulkinder. Man muß lange darin lesen
ˮ
(14)
.
Sodann wird erzählt, was in den zwölf Stunden der Vollstreckung
des Urteils geschieht
4
.
b) Im zweiten Einschub nimmt die Exekution ihren Anfang (15
-
18)
. Der Verurteilte wird entkleidet, unter die Egge gelegt und
festgeschnallt. Und während der Reisende die Überlegung an
-
4 Der Offizier berichtet, dass, wenn die Egge erst einmal zu schreiben
begonnen hat, „die ersten sechs Stunden [
…
] der Verurteilte fast wie
früher [lebt], er leidet nur Schmerzen [
…
]
. Wie still wird dann der
Mann aber um die sechste Stunde! Verstand geht dem Blödesten auf.
Um die Augen beginnt es. [
…
] Es geschieht ja weiter nichts, der Mann
fängt bloß an, die Schrift zu entziffern, er spitzt den Mund, als horche
er. Sie haben gesehen, es ist nicht leicht, die Schrift mit den Augen zu
entziffern; unser Mann entziffert sie aber mit seinen Wunden. [
…
]
Dann aber spießt ihn die Egge vollständig auf und wirft ihn in die
Grube, wo er auf das Blutwasser und die Watte niederklatscht. Dann
ist das Gericht zu Ende, und wir, ich und der Soldat, scharren ihn ein
ˮ
(15)
.
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stellt, dass er „nur mit der Absicht [reise], zu sehen, und keines
wegs etwa, um fremde Gerichtsverfassungen zu ändern
ˮ
, und
dass „die Ungerechtigkeit des Verfahrens und die Unmenschlich
keit der Exekution [
…
] zweifellos [sei]
ˮ
(17), wird die groteske
Szene beschrieben, in welcher der Verurteilte sich erbricht, kaum
dass ihm der Filzstumpf in den Mund geschoben worden ist.
2) Der zweite Teil kann als derjenige des Dialogs zwischen dem
Offizier und dem Reisenden bezeichnet werden (18
-
27), und auch
er kann wieder in drei Einheiten unterteilt werden. Die erste Ein
heit ist eine Art von nostalgischem Monolog des Offiziers, worin
er sich an die Exekutionen von früher erinnert (18
-
20)
5
.
In der zweiten Einheit (S. 21
-
24) äußert der Offizier den ängstli
chen Verdacht, dass der Reisende von dem neuen Kommandan
ten in die Kolonie eingeladen worden sei, um Zweifel an der
Menschlichkeit des Verfahrens zu äußern und so einen Beitrag zu
deren Abschaffung zu erbringen; der Reisende beruhigt ihn je
doch und erklärt ihm, dass er seinen Einfluss überschätze
6
. Der
Offizier hält indes nicht nur seine Besorgnis aufrecht, sondern
5 Der Offizier erinnert sich: „Wie nahmen wir alle den Ausdruck der
Verklärung von dem gemarterten Gesicht, wie hielten wir unsere
Wangen in den Schein dieser endlich erreichten und schon vergehen
den Gerechtigkeit!
”
; doch auch in einer Zeit des Niedergangs wie der
gegenwärtigen falle „die Leiche zum Schluß noch immer in dem un
begreiflich sanften Flug in die Grube, auch wenn nicht, wie damals,
Hunderte wie Fliegen um die Grube sich versammeln
ˮ
(20 f.
)
.
6 Der Reisende erklärt: „Wenn ich eine Meinung aussprechen würde, so
wäre es die Meinung eines Privatmannes, um nichts bedeutender als
die Meinung eines beliebigen anderen, und jedenfalls viel bedeutungs
loser als die Meinung des Kommandanten, der in dieser Strafkolonie,
wie ich zu wissen glaube, sehr ausgedehnte Rechte hat. Ist seine Mei
nung über dieses Verfahren eine so bestimmte, wie Sie glauben, dann.
fürchte ich, ist allerdings das Ende dieses Verfahrens gekommen, ohne
daß es meiner bescheidenen Mithilfe bedarf
”
(23)
.
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bittet in der Gewissheit, den Reisenden von der Menschlichkeit
des Verfahrens überzeugt zu haben, diesen um Unterstützung bei
dem Vorhaben, den Kommandanten davon zu überzeugen, das
Verfahren nicht abzuschaffen.
Und so entwickelt in der dritten Einheit (24
-
27) der Offizier einen
Plan, wonach der Reisende so weit wie möglich darauf verzichten
soll, ein Urteil über das Verfahren abzugeben, oder sogar eine
Rede zu seiner Verteidigung halten soll. Natürlich lehnt der Rei
sende es ab, sich an dem von dem Offizier entwickelten Plan zu
beteiligen, und erklärt sich „als ein Gegner dieses Verfahrens
”
;
und er eröffnet dem Offizier, dass er dem Kommandanten sagen
werde, was er von dem Verfahren hält (27)
.
c) Der dritte Einschub ist sehr kurz (29 f.
); er kündigt die Umkeh
rung der Situation an, wodurch der Offizier vom Scharfrichter
zum Hingerichteten wird: „
‘
Das Verfahren hat Sie also nicht
überzeugt
’
, sagte er [sc. der Offizier] für sich und lächelte, wie
ein Alter über den Unsinn eines Kindes redet [
…
]
.
‘
dann ist es
also Zeit
’
, sagte er schließlich und blickte plötzlich mit hellen
Augen, die irgendeine Aufforderung, irgendeinen Aufruf zur
Beteiligung enthielten, den Reisenden an.
‘
Wozu ist es Zeit?
’
,
fragte der Reisende unruhig, bekam aber keine Antwort
”
(28)
.
3) Im dritten Teil, dem Herzstück der Erzählung, werden alle
Handlungen beschrieben, welche zum Tode des Offiziers führen
(29 ff.
)
. Der Verurteilte wird befreit, und der Offizier ergreift das
Blatt mit der Aufschrift „Sei gerecht!
ˮ
und legt es in den Zeich
ner. Danach zieht er sich aus. Der Reisende lässt den Dingen
ihren Lauf
7
. Der Verurteilte ahnt, dass sich ein großer Um
-
7 Der Reisende denkt bei sich: „War das Gerichtsverfahren, an dem der
Offizier hing, wirklich so nahe daran behoben zu werden [
…
], dann
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schwung vollzieht
8
. Der Offizier legt sich sodann auf das Bett,
empfängt den Filzstumpf und wird von dem Soldaten und dem
Verurteilten angeschnallt. Sobald die Riemen angebracht sind,
beginn der Apparat zu arbeiten. Anfangs funktioniert alles per
fekt, kein Stau, kein Knarren; dann aber beginnt die Maschine in
Trümmer zu gehen: „die Egge schrieb nicht, sie stach nur [
…
]
[
…
]; das war ja keine Folter, wie sie der Offizier erreichen woll
te, das war unmittelbarer Mord
ˮ
. (34)
. Danach sieht der Reisende
das Gesicht der Leiche: „Es war, wie es im Leben gewesen war;
kein Zeichen der versprochenen Erlösung war zu entdecken; was
alle anderen in der Maschine gefunden hatten, der Offizier fand
es nicht; die Lippen waren fest zusammengedrückt, die Augen
waren offen, hatten den Ausdruck des Lebens, der Blick war ru
hig und überzeugt, durch die Stirn ging die Spitze des großen
eisernen Stachels
ˮ
(34 f.
)
.
d) Der vierte Einschub ist ein Sprung, welcher graphisch durch
einen Zwischenraum zum Ausdruck gebracht wird (35)
.
4) Dieser Sprung führt an einen anderen Ort als den, in dem die
Hinrichtung stattgefunden hat, zwischen den Häusern der Kolo
nie, wo sich der vierte Teil der Erzählung abspielt (35
-
37)
. Zent
raler Gegenstand des Berichts ist das Grab des alten Komman
danten, auf dessen Grabstein geschrieben steht: „Hier ruht der
alte Kommandant. Seine Anhänger, die jetzt keinen Namen tra
gen dürfen, haben ihm das Grab gegraben und den Stein gesetzt.
Es besteht eine Prophezeiung, daß der Kommandant nach einer
handelte jetzt der Offizier vollständig richtig; der Reisende hätte an
seiner Stelle nicht anders gehandelt (S. 31)
.
8 „Was ihm geschehen war, geschah nun dem Offizier [
…
]
.Das war also
Rache. Ohne selbst bis zum Ende gelitten zu haben, wurde er doch bis
zum Ende gerächt
ˮ
(S. 31)
.
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bestimmten Anzahl von Jahren auferstehen und aus diesem Hause
seine Anhänger zur Wiedereroberung der Kolonie führen wird.
Glaubet und wartet!
ˮ
(36)
. Der Reisende liest den Text auf dem
Stein und tut so, als habe er die Umstehenden nicht wahrgenom
men; er begibt sich zum Hafen, um die Insel zu verlassen. Der
Soldat und der Verurteilte wollen ihn einholen und sich ebenfalls
einschiffen, doch der Reisende gestattet es ihnen nicht
9
.
3. Systematische Erörterung der Interpretationsstränge
Die Interpretationen der Erzählung In der Strafkolonie können in
drei Gruppen zusammengefasst werden: „allegorische
”
(oder
arbiträre), „politische
”
(oder wertende) und „parabolische
”
(oder
enthüllende)
.
Die allegorischen Interpretationen gehen von der Vorstellung aus,
dass es eine Art von Bruch, gleichsam einen Sprung zwischen der
Bedeutung der ausdrücklich erzählten Handlung und der dieser
Handlung zugrunde liegenden Bedeutung gebe. Im allegorischen
Denken erscheint das Signifikat travestiert, maskiert durch den
Signifikant. Allegorisch zu interpretier, en bedeutet daher, über die
Travestie und die Maskierung hinauszugehen, um sie als in der
Sache nutzlos zu erweisen und um Gestalt und Gesicht des ver
borgenen Bezeichneten sichtbar zu machen. In der Allegorie ist
somit der Signifikant ganz beliebig, zufällig, während der Sinn
außerhalb seiner liegt. Aus dieser Sicht würde die Erzählung In
der Strafkolonie nur dem Anschein nach von einer Hinrichtung
berichten, während sie in Wirklichkeit von etwas anderem
spricht. Worin dieses „Andere
ˮ
besteht, ist, wie wir sehen wer
-
9 „Sie hätten noch ins Boot springen können, aber der Reisende hob ein
schweres, geknotetes Tau vom Boden, drohte ihnen damit und hielt sie
damit von dem Sprung ab
”
(36 f.
)
.
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den, nur schwer auf eindeutige Weise zu sagen. Der zentrale
Punkt ist jedenfalls, dass Gegenstände und Protagonisten der
Erzählung eine Bedeutung zum Ausdruck bringen, welche sich
absolut von derjenigen unterscheidet, die man ihr entnehmen
könnte, wenn man innerhalb der Grenze der möglichen Bedeu
tungen verbleibt, welche dem Signifikanten gegeben werden
können.
Die „politischen
”
(oder wertenden) Interpretationen halten hinge
gen sich an den Text und gehen von der Vorstellung aus, dass die
Erzählung nicht nur auf einer Art von Konflikt oder Gegenüber
stellung von Offizier / altem Kommandanten und Reisendem /
neuem Kommandanten aufbaut, sondern auch auf einer Art von
Parteinahme Kafkas für eine der beiden „Fraktionen
ˮ
, genauer für
die zweite Achse. Aus dieser Sicht berichtet die Erzählung zwei
fellos von einer Hinrichtung und bedeutet eine Stellungnahme im
Hinblick auf ihre Legitimität bzw. „Gerechtigkeit
”
.
Die am Stil des Gleichnisses orientierten (d.h. enthüllenden) In
terpretationen schließlich gehen von der Überzeugung aus, dass
die Erzählung eine ganz bestimmte Erzählstruktur aufweise, wel
che auf ein Umschlagen der Situation mit enthüllender Kraft zie
le. Ebenso wie die religiösen Gleichnisse (man denke vor allem
an diejenigen der Evangelien), wo zwischen einem Ereignis, einer
Bekehrung und einer Entscheidung unterschieden werden kann
10
,
gebe es am selben Maßstab in dieser Erzählung Kafkas (aber
nicht nur in dieser) ein Ereignis (der Besuch des Reisenden), von
dem eine Bekehrung ausgeht („dann ist es also Zeit
”
), welche zu
einem Umkippen führt (der Selbst
-
Exekution), das den zugrunde
liegenden Sinn von etwas zu enthüllen / zu offenbaren vermag
.
Aus dieser Sicht berichtet die Erzählung In der Strafkolonie nicht
10 Vgl. dazu P. Ricoeur, La logica di Gesù. Magnano 2009, S. 37 ff.
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nur von einer Hinrichtung, sondern bildet sogar eine Art von Re
flexion über den tieferen Sinn strafrechtlichen Denkens.
4. Die „allegorischen
”
(oder arbiträren) Interpretationen
Innerhalb der allegorischen Interpretationen kann man unter
scheiden zwischen jenen, welche vollständig die rechtliche Di
mension transzendieren, und jenen, welche in ihrem Innern ver
bleiben. Stets aber handelt es sich um Interpretationen, welche
ganz losgelöst sind von der Tatsache, dass in der Erzählung von
der Vollstreckung einer Todesstrafe berichtet wird.
Eine nichtjuristische allegorische Interpretation ist vor allem jene
auf der Linie der Freud
’
schen Psychologie, wonach der in der
Erzählung beschriebene Vorgang nichts anderes ist als der Über
gang von der alten Ära vor der „Entdeckung
”
der Psyche zur
modernen, von der Kenntnisnahme der letzteren gekennzeichne
ten Ära
11
. Während die alte Ära gebildet werde aus Gott (dem
Guten), der Sünde (dem Bösen) und der Seele (dem Schuldbe
wusstsein), sei die moderne Ära gebildet durch Bewusstsein, nie
dere Instinkte und Ego. Dies alles nun werde dargestellt durch
den Apparat, besser gesagt durch dessen drei Teile, wonach die
höhere Ebene den alten Gott und das moderne Bewusstsein dar
stelle, das Bett die alte Sünde und die modernen niederen Instink
te und die Egge die alte Seele und das moderne Ego. Aus dieser
Sicht ist die Vollstreckung der Strafe gegen eben die Person, wel
che den Apparat befehligt, nichts anderes als der Ausdruck der
Bewusstwerdung des Menschen von sich selbst und bezeichnet
somit den Übergang von der alten zur modernen Ära.
11 W.J. Dodd, Kafka and Freud: a note on „In der Strafkolonie
”
, in: Mo
natshefte 1978, 129 ff.
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Download Date | 4/22/16 3:20 PMKommentar I 53
Eine andere symbolisch
-
allegorische Interpretation, die in diesem
Fall literarischen / autobiographischen Charakter besitzt, ist jene,
wonach die Maschine der Strafkolonie die Literatur darstellt,
während das Werk selbst den Versuch Kafkas bildet, seine Lage
als Schriftsteller im Lichte einer privaten und sozialen Realität
darzustellen, welche ihm „die Verantwortlichkeit
”
auferlegt, nicht
zu schreiben:
Die Geschichte des Hauptmanns, der als Epigone die Maschine be
fehligt, welche der alte Kommandant konstruiert hat, erweist sich
nämlich bei näherer Betrachtung als Geschichte des Selbstmordes,
der im Namen der Literatur bzw. auf Grund der Literatur begangen
wird, wenn, wie gesagt, der Mechanismus, der die Strafkolonie be
rühmt gemacht hat, nichts anderes ist als eine ästhetische Maschine.
Das will sagen, dass Kafka mit dieser Erzählung eine Antwort auf
jene Frage nach der Bedeutung seines Lebens als Schriftsteller zu
geben sucht, die er sich in dem Augenblick hat stellen müssen, in
dem er sich von der Gesellschaft und von der Geschichte losgelöst
hat, um einem Befehl zu gehorchen, der ihm keine Berechtigung
mehr zu besitzen scheint. Die nutzlose Hinrichtung des Offiziers im
einsamen Tal mit der Maschine, welche sich selbst zerstört, nach
dem sie ihn kalt durchbohrt hat, ohne ihm die versprochene Erlö
-
sung zu gewähren, ist, so könnte man sagen, jener Selbstmord, dem
Kafka entgegengeht, indem er sich kopfüber in das Schreiben
stürzt, als es seine Pflicht wäre, dem Gebot des Lebens und der
Welt zu folgen
12
.
Auf derselben, ebenfalls symbolisch
-
allegorischen und ebenfalls
literarisch geprägten Spur bewegt sich auch jene Interpretation,
wonach In der Strafkolonie eine Distanzierung Kafkas von einem
Literaturverständnis der Expressionisten seiner Zeit und zugleich
die Verkündung einer anderen, alternativen Art ihres Verständ
nisses darstellt
13
:
12 G. Baioni, Kafka: letteratura ed ebraismo. Turin 1984, S. 85.
13 L. Borghese, Il suicidio di Don Chisciotte, in: F. Kafka, Nella colonia
penale, hrsg
. von L. Borghese. Venedig 1993, S. 9 ff.
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Download Date | 4/22/16 3:20 PM54 Roberto Bartoli
Die Maschine der Gerechtigkeit, welche Ungerechtigkeit hervor
bringt, zeigt die Ungerechtigkeit jenes von den Expressionisten ge
hegten Traums, indem sie das unbewusste Stigma jener Knecht
schaft darstellt, welche in ihren „Exekutionen
ˮ
enthalten war
14
.
Freilich
hört das Gesetz der Unterwürfigkeit, das eine ererbte Form perpetu
ierte, in dem Augenblick auf, in dem der Offizier den Zweifel ak
zeptiert und, indem er in sich selbst den Sklaven der Macht zerstört,
auch die Macht zerstört. Die Darstellung stirbt, jedoch in der Dar
stellung [
…
] Die Literatur soll für Kafka nicht das Leben darstellen,
das den Mythos zerstört, denn auf diese Weise hält sie die alte My
thologie am Leben
–
Um dem Leben Gerechtigkeit zu verleihen,
muss die Literatur (wie es Friedrich Schlegel und Nietzsche gefor
dert hatten) eine „neue Mythologie
ˮ
darstellen
15
.
Schließlich fehlt es auch nicht an Lesarten der Erzählung, die
zwar allegorisch sind, jedoch eine rechtliche Kehrseite besitzen.
So gibt es beispielsweise jenen, der sie als eine Allegorie der
Auslegungstätigkeit in dem Sinne interpretiert hat, dass der Ap
parat das Symbol der „Maschinerie der Gerechtigkeit
”
sei und
ihre Zerstörung die Unmöglichkeit einer mechanischen Interpre
tation von Normen zum Ausdruck bringe, einer Interpretation
also, in welcher der Auslegungsspielraum vernichtet worden ist
16
.
Abgesehen von den vielfältigen kritischen Einwänden, welche
gegen jede dieser Lesarten erhoben werden können, resultiert die
Ratlosigkeit gegenüber dieser Interpretationslinie aus der allego
rischen Annahme selbst, von der sie ausgehen, also der Vorstel
lung, dass man bei der Interpretation eines Textes, dem jegliche
14 L. Borghese, a.a.O.
, S. 27.
15 L. Borghese, a.a.O.
, S. 33.
16 L. Kirchberger, Franz Kafka
’
s Use of Law in Fiction. A New Interpre
tation of In der Strafkolonie, Der Prozess, and Das Schloss. New York
u.a. 1986.
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allegorische Absicht vollständig und bewusst fremd ist, die Ver
knüpfung des Textes mit seiner Bedeutung zerreißen könne
17
.
Damit verarmt nicht nur der Sinn der Erzählung bis hin zu seiner
Entleerung, denn die allegorische Interpretation bedeutet letztlich
den Triumph der Subjektivität und damit die Herrschaft der Will
kür
18
. Indem sie jede Verbindung mit dem Text, mit der Zielset
zung, mit der Welt, mit der Realität verliert, führt die allegorische
Interpretation dahin, dass alles auch irgendetwas anderes bedeu
ten kann, wie ja auch die gänzlich inhomogene Vielfalt der Er
gebnisse, in welche sie mündet, beweist.
Wie eingangs erwähnt, ist es interessant festzustellen, dass in der
literarischen Interpretation sich ein Problem anders und in man
cher Hinsicht sogar entgegengesetzt stellt als dasjenige, welches
sich für das Recht und insbesondere für das Strafrecht stellt.
Denn im Strafrecht gehen der Text und der Buchstabe des Geset
zes notwendiger Weise auf Kosten des Lebens, das ihnen zugrun
de liegt. Da das Gesetz die Funktion , besitzt, einen Ausschnitt aus
dem Leben zu umschreiben, der einen bestimmten Unwert zum
Ausdruck bringt, neigt das Gesetz zu einer Generalisierung, zu
einer Abstraktion und folgerichtig auch zu einer Sterilisierung, zu
einer Mortifizierung jenes umschriebenen Ausschnittes des Le
bens. Die lebendige Vielfalt der Wirklichkeit wird auf diese Wei
se zu einem im Grunde genommen toten sprachlichen Text ver
eindeutigt bzw. vereinheitlicht. Eine Interpretation, welche an die
Heiligkeit des Textes gebunden bleibt, läuft Gefahr, zu einer In
terpretation zu werden, welche nicht in der Lage ist, das Gesetz
17 Vgl. M. Cacciari, La parabola spezzata, in: Ders.
, Hamletica. Mailand
2009, S. 109 ff.
18 „Kritische
”
Vertiefung des Gleichnis
-
Stils b. W. Benjamin, Il dramma
barocco tedesco. Turin 1971, S. 162 ff.
; P. Ricoeur, Il simbolo dà a
pensare. Brescia 2002, S. 18 f.
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mit dem realen Lebens
-
Kontext der konkreten Tat in Beziehung
zu setzen. Eine Interpretation, welche in gewissem Maße die
Bindung an den Text unterbricht, und in der Lage ist, sich dem
Kontext zu öffnen und die Substanz des der Norm zugrunde lie
genden Schutzzweckes zu erkennen, ist daher diejenige, welche
es ermöglicht, dem Text des Gesetzes in Verbindung mit der Rea
lität der Tat neues Leben einzuhauchen. Anders ist es bei einer
literarischen Interpretation, welche den Text entsakralisiert und
letzten Endes das in ihm enthaltene Leben vernichtet, um es
durch eine künstliche Vorstellung als Ausdruck der Subjektivität
des Interpreten zu ersetzen
–
vor allem dort, wo der Text der Er
zählung das Instrument bildet, mit dem das Leben in seiner dau
erhaften Lebendigkeit, also ohne es zu mortifizieren, erfasst wird.
5. Die „politischen
”
(bzw. wertenden) Interpretationen
Die „politischen
”
Interpretationen gehen, wie bemerkt, von dem
angeblichen Gegensatz aus, den die Erzählung zwischen Offizier/
altem Kommandanten und Reisendem / neuem Kommandanten
zeichnet.
Insbesondere wären danach, aus einer gleichsam verfassungs
rechtlichen Sicht, der Offizier und der alte Kommandant Aus
druck eines blinden und stumpfsinnigen Legalismus, eines rigi
den Positivismus, sowie einer geradezu absolutistischen Sicht
weise, welche in den Totalitarismus münden muss, während im
Gegensatz dazu der Reisende und der alte Kommandant Träger
naturrechtlicher oder gar demokratisch
-
verfassungsrechtlicher
Forderungen wären. So betrachtet ist Kafkas Erzählung nur eine
Art von vorweg genommener Anklage der Inhumanität totalitärer
Regime, eine Verteidigung des Menschen und seiner Würde ge
gen die rechtswidrige Anwendung von Gewalt, die Betonung der
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Vorherrschaft des Rechts gegen grenzenloses politisches Han
deln.
Aus einer mehr strafrechtlichen Sicht wären der Offizier und der
alte Kommandant eherne Anhänger der Rechtmäßigkeit der Fol
ter und der Todesstrafe, während andererseits der Reisende und
der neue Kommandant abolitionistische Forderungen verträten
19
.
Zugunsten dieser Lesarten wird der nationalistische Patriotismus
des Offiziers hervorgehoben, seine Verbundenheit mit der Uni
form und seine unkritische Einhaltung der Prozeduren des Sys
tems. Außerdem argumentiert man mit den Modalitäten, unter
denen der Prozess stattfindet, nämlich ohne jegliche Garantie
(Schuldvermutung statt Unschuldsvermutung; Verletzung aller
Verteidigungsrechte)
. Umgekehrt werden aufgrund einiger ihrer
Äußerungen die „liberalen
”
und „humanen
”
Positionen des Rei
senden und des Kommandanten betont.
Mir scheint aber, dass der Blick, den Kafka auf die rechtliche
Dimension hat werfen wollen, nicht dieser wertenden Lesart ent
spricht. Uns dies zu zeigen dient die Erzählung selbst, und zwar
nicht nur der Inhalt des in ihr Berichteten, sondern vor allem ihre
stilistische Struktur.
Was den ersten Punkt angeht, muss unsere Aufmerksamkeit sich
auf die Gestalten des Reisenden und des Offiziers konzentrieren.
Wie man sich erinnern wird, reiste jener „nur mit der Absicht, zu
sehen, und keineswegs etwa, um fremde Gerichtsverfassungen zu
ändern
ˮ
. Außerdem gibt der Reisende sich zwar einerseits als
Gegner des Verfahrens zu erkennen, andererseits aber erklärt er,
dass er seine Ablehnung dem Kommandanten erklären werde, der
19 Vgl. W. Müller
-
Seidel, Die Deportation des Menschen. Kafkas Erzäh
lung „In der Strafkolonie
”
im europäischen Kontext. Stuttgart 1986,
S. 150 ff.
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zwar die vollkommene Befugnis besitze, das Verfahren zu än
dern, jedoch niemals wirkliche Entscheidungen in dieser Rich
tung getroffen habe. Von besonderem Interesse erweist sich auch
das Gespräch zwischen dem Offizier und dem Reisenden. Aus
diesem geht eindeutig hervor, dass der Letztere dem Offizier
nicht so sehr widerspricht, diesen vielmehr nicht zu verstehen
vermag; er vertritt weniger eine wertende Alternative als dass er
Zweifel und Unsicherheit äußert. Auch scheint der Offizier zu
dem Reisenden nicht in der Absicht zu sprechen, ihn zu überzeu
gen, sondern ihn zu „bekehren
ˮ
. Seine Argumentation ist nicht
auf ein Überzeugen gerichtet, sondern besteht in einem Glau
bensbekenntnis. Der Offizier spricht niemals von der Gerechtig
keit oder Ungerechtigkeit des Verfahrens, sondern setzt ihre Ge
rechtigkeit ohne weiteres voraus und beschränkt sich darauf, ihr
Funktionieren zu beschreiben, und mittels dieser Beschreibung
will er nicht nur den Reisenden „überzeugen
ˮ
, „bekehren
ˮ
, son
dern ist auch sicher, dass er es kann. Was das Umschlagen der
Situation auslöst, ist einzig und allein die fehlende Zustimmung
seitens des Reisenden, welchem letzten Endes der „Glaube
ˮ
des
Offiziers fremd bleibt, der während der ganzen Zeit wie ein Pre
diger auf den Reisenden einredet, überzeugt, dass dem Reisenden
am Ende nichts anderes übrig bleibt, als seinen Glauben zu teilen.
In stilistischer Hinsicht berücksichtigen die wertenden Interpreta
tionen nicht hinreichend den entscheidenden Übergang der Erzäh
lung in Form des „Umschlagens
”
und damit die Notwendigkeit,
die Unterschiede zur Kenntnis zu nehmen, welche zwischen der
gleichsam normalen Vollstreckung, welche der Offizier bis dahin
durchgeführt hatte, und der Selbstexekution bestehen, welche zur
Auflösung des Apparates führt. Vor allem muss man einerseits
das vom Offizier verletzte Gebot „Sei gerecht!
”
berücksichtigen,
in welchem man nicht eine Gerechtigkeitspflege nach der Art
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verstehen kann, wie sie der Offizier bis dahin praktiziert hatte.
Andererseits muss bedacht werden, dass die Maschine, mag sie
beim Verurteilten eine „Verwandlungs
”
-
Effekt bewirken, beim
Offizier „einen regelrechten Mord
”
begeht
–
mit der Folge, dass
das Herstellen von Gerechtigkeit in dem von dem Offizier betrie
benen System darin besteht, das zu zeigen, was dieses System
wirklich ist: ein System, das nicht verwandelt, sondern mordet.
Damit aber ist klar, dass die zentrale Frage, mit der es sich ausei
nanderzusetzen gilt, zu einer anderen wird, nämlich: Welche Art
von Justiz
-
System wird in der Strafkolonie praktiziert? Was be
deutet seine Selbst
-
Auflösung? Um diese Fragen zu beantworten,
muss man jede wertende Sichtweise aufgeben und die enthüllen
de Sichtweise einnehmen, und der Schlüssel zum Verständnis
kann nur in dem Umschlag, in dem Umkippen gefunden werden,
das die Selbst
-
Exekution darstellt.
6. Die „parabolischen
”
(bzw. enthüllenden)
Interpretationen
Die wichtigsten parabolisch
-
enthüllenden Interpretationen sind
im Wesentlichen zwei. Massimo Cacciari schreibt:
Die Maschine der vollkommenen Vergeltung, das vollkommene
supplicium zerbricht, löst sich auf, spielt verrückt. Ihre Hand ritzt
nicht mehr in geduldigen Schnörkeln die übertretene Norm in den
Körper des Verurteilten ein, sondern sticht zu wie ein mörderischer
Dolch. Sie übt nicht Vergeltung, sondern vollbringt einen rohen
Mord. Der Verurteilte zeigt nicht mehr Einsicht, wenn er nach
sechs Stunden endlich von der Strafe als solcher erlöst wird (der
Gedanke der Erziehung verblasst ja auch in diesem Falle und wird
durch den Gedanken der Vergeltung ersetzt), sondern stirbt wie ein
Hund. Man beachte: Es ist dieselbe Maschine in derselben Kolonie,
jedoch in dem Zeitpunkt, in welchem diese „die alten Gewohnhei
ten
ˮ
aufgibt. Der Vergeltungsgedanke enthüllt sein schreckliches
Antlitz
–
und er enthüllt es, wie es nur gerecht ist, am Körper seines
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letzten eigenen Gläubigen [
...
]; in der Strafkolonie wird die Maske
des „Sei gerecht!
ˮ
zerstört
20
.
Aus dieser Perspektive betrachtet legt Kafka den Finger in die
Wunde des Strafrechts, nämlich die Strafe, oder besser: in das
Herz der Wunde, nämlich in ihren Leidensgehalt, d.h. in ihr Ziel,
Leid zuzufügen. Der Punkt, um den es geht, ist daher: Wozu dient
dieses Leid? Äußerlich, sagt uns Kafka, um zu vergelten, zu er
ziehen, zu sühnen, zu bessern (die „Verwandlung
”
des Verurteil
ten), in Wirklichkeit aber zu nichts (der „Mord
ˮ
an dem Offizier)
.
Vielleicht konnte das Leid in einer Zeit, als die religiöse und die
rechtliche Dimension noch identisch waren, eine „läuternde
”
und
„reinigende
”
Funktion ausüben, heute jedoch, in der modernen
Zeit, ist dies
–
wie es eindrucksvoll gezeigt worden ist
–
nicht
mehr der Fall:
Die ursprüngliche Koinzidenz der Bedeutungen von Leiden und
Strafe hat faktisch die Überzeugung interpoliert, dass diese Koinzi
denz
–
die an sich nicht notwendig ist und immer an bestimmte Be
gleitumstände gebunden ist
–
auch ihre prinzipielle Unauflöslich
keit in dem Sinne einschließe, dass eine Strafe nur unter der Bedin
gung angemessen zugefügt werden könne, dass demjenigen, der ihr
unterworfen wird, ein Schmerz zugefügt wird
21
.
Was aber ist der funktionale Zusammenhang, der heutzutage zwi
schen dem Schmerz des einzelnen Täters und den „modernen
”
Strafzwecken besteht? Aus der Sicht der Generalprävention, wo
nach der Einzelne bestraft wird, um der Allgemeinheit der
Rechtsgenossen die Ernsthaftigkeit der gesetzlichen Strafdrohun
gen zu demonstrieren, besteht die Verbindung darin, dass der
20 M. Cacciari, Due passi all
’
inferno. Brevi note sul mito della pena, in:
U. Curi / G. Palombarini (Hrsg
.
), Diritto penale minimo. Rom 2002,
S. 251.
21 U. Curi, I paradossi della pena, in: Rivista italiana di diritto e procedu
ra penale 2013, 1073 ff.
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Erstere zum bloßen Mittel in den Händen der öffentlichen Gewalt
wird, um an die Allgemeinheit Botschaften zu senden
–
mit der
Folge, dass die Strafe selbst und ihr Leidensgehalt ohne eine
Rechtfertigung gegenüber dem Verurteilten bleiben. Daraus re
sultiert, eben in der Absicht, eine nicht instrumentelle Rechtferti
gung der Bestrafung des Einzelnen zu finden, die Forderung nach
der erzieherischen Funktion der Strafe. Jedoch kann das bloße
Leid kein Mittel sein, um die Werte der Gesellschaft einzuimpfen
oder eine Verbindung zu ihr wiederherzustellen, denn diese Ziele
kann man mit anderen Mitteln, wie dem Dialog und der Ausei
nandersetzung mit dem Täter, nicht aber mittels eines Leidens,
erreichen.
Die zweite Deutung beschränkt sich nicht darauf, auf die Nutzlo
sigkeit der Schmerzzufügung hinzuweisen, sondern hebt ab auf
die Auflösung des Apparates, und stellt damit das ganze System
in Frage und enthüllt dessen wahres Gesicht. René Girard
schreibt dazu:
Der Apparat, der, wie beeindruckend er auch sein mag, die reale
Identität der legalen Gewalt und der illegalen Gewalt beschönigt,
blättert letztlich doch ab, wird rissig und bricht am Ende zusam
men
22
.
Und es ist erstaunlich, dass eben dies in der Strafkolonie stattfin
det.
Aus dieser Sicht zeigt uns die Erzählung Kafkas, dass das Straf
recht nichts ist als eine Form der Rache bzw. dass die Gewalt,
welche der Rache zugrunde liegt, dieselbe ist wie jene, die auch
dem primitiven Recht zugrunde liegt. Das Strafrecht, das entstan
den ist, um die Rache und die Gewalt, welche diese kennzeichnet,
22 R. Girard, La violenza e il sacro. 7. Aufl. Mailand 2005, S. 41.
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zu beseitigen, bleibt eben doch deren Logik verhaftet
23
. Die Ge
walt, welche angewendet wird, um mittels des Strafjustiz
Apparates Gerechtigkeit zu schaffen, ist nichts anderes als die
Gewalt, welche der Rache und in mancher Hinsicht der Opferung
zugrunde liegt. Rache, Opferung und Justizapparat erweisen sich
daher als durch dieselbe Gewalt gekennzeichnet. Unterschiedlich
sind sie nur in den Graden der Transzendenz und Mythologie,
welche diese Instrumente stützen, und in den Graden der Bemän
telung dieser Identität.
Tatsächlich bemänteln und maskieren irgendeine Transzendenz,
ein Mythos, ein Glaube, eine Illusion, eine Täuschung die Identi
tät von Gewalt und Recht, indem sie eine Unterschiedlichkeit
aufbauen, welche in der Realität nicht besteht; außerhalb dieser
Transzendenz ist die unversöhnliche Realität eine andere. In dem
Augenblick, in dem man das System des Strafens in seiner ent
hüllten Realität schaut, erscheint es als das, was es ist: „ein
Mord
”
. Es ist daher auch unmöglich, in die Rückenhaut des Offi
ziers das verletzte Gebot „Sei gerecht!
”
einzuschreiben („Die
Egge schrieb nicht, sie stach nur
ˮ
), möglich ist nur, dass der Kör
per an den Nadeln festgeheftet bleibt. Und auf diese Weise ist
von der Strafjustiz Gerechtigkeit geübt worden.
7. Drei rechtliche Folgerungen und
eine literarische Folgerung
Wozu dienen alle diese Überlegungen?
Vor allem dienen sie dazu, zu einem Bewusstsein der Tatsache zu
gelangen, dass das Strafrecht sich auf eine Art von Verzauberung,
eine Art von Illusion stützt. Der entscheidende Punkt ist jedoch
nicht so sehr, ob der Mensch, wenn diese Illusion erst einmal
23 U. Curi, I paradossi della pena, in Riv. it. dir. proc. pen.
, 2013, 1077.
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enthüllt ist, auf sie verzichten kann, als vielmehr die Frage, ob
das betrügerische Strafsystem eines ist, das eine unabweisliche
Funktion für das friedliche bürgerliche Zusammenleben auszu
-
üben vermag
. Und die Antwort scheint positiv zu sein, da diesel
be Transzendenz, die an einen Unterschied zwischen Rache, Auf
opferung und Strafsystem glauben lässt, es auch gestattet, die
Gewalt zu täuschen und die Gefahr einer unendlichen Kette von
Vergeltungen zu bannen. Die Täuschung, auf der das Strafsystem
beruht, ist notwendig, um die Gewalt selbst zu täuschen:
Nur die Transzendenz des Systems, wenn sie tatsächlich von allen
anerkannt wird
–
welches auch immer die Institutionen sind, die sie
konkretisieren
–
kann die präventive oder heilende Wirksamkeit mit
der Unterscheidung der heiligen legitimen Gewalt garantieren, in
dem sie verhindert, dass diese zum Gegenstand neuer Gegenklagen
und Erwiderungen wird, d.h. in den Teufelskreis der Rache zurück
fällt
24
.
Doch nicht nur dies, sondern
allein das Justizsystem zögert niemals, die Gewalt in vollem Um
fang zu bekämpfen, weil es ein absolutes Gewaltmonopol besitzt.
Dank dieses Monopols gelingt es normalerweise, die Rache zu er
sticken, statt sie zu steigern, auszuweiten und zu vervielfachen, wie
es dieselbe Verhaltensweise in einer primitiven Gesellschaft tun
würde
25
.
Weil
–
zweitens
–
der Mensch, selbst wenn er von der Verzaube
rung befreit ist, nicht auf das Recht verzichten kann, ist der Hin
weis, der aus der Erzählung hervorgeht, der, das System der Stra
fe mit immer größerer Delikatesse zu handhaben
–
nicht nur und
nicht so sehr in quantitativer Hinsicht, indem sein Anwendungs
bereich reduziert wird, sondern vielmehr in qualitativer Hinsicht,
indem Korrektive eingeführt werden, welche darauf zielen, den
24 R. Girard, La violenza e il sacro, a.a.O.
, S. 42.
25 R. Girard, La violenza e il sacro, a.a.O.
, S. 41.
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Leidensgehalt zu reduzieren. Und bekanntlich ist ja der Entwick
lungsprozess des Strafrechts durch jene Transformation im Sinne
einer größeren Humanisierung der Strafe gekennzeichnet. Man
könnte geradezu behaupten, dass außer sozialgeschichtlichen
Gründen, wonach aus der Verbesserung der Lebensbedingungen
auch eine unterschiedliche Leidensempfindsamkeit folgt, es eine
Art von Entsprechung zwischen der zunehmenden Befriedung der
Gesellschaft mit der daraus folgenden Verminderung der Gewalt
und der fortschreitenden Humanisierung des Leidensgehaltes
gibt. Daraus folgt ein Minimalstrafrecht im Sinne eines weniger
Leiden zufügenden, weniger gefängniszentrierten Strafrechts.
Bei näherem Hinsehen freilich können die Überlegungen zu noch
mehr dienen und uns wenn schon nicht zu einer völligen Über
windung des Strafdenkens, so doch zu seiner strukturellen Ein
dämmung drängen, indem wir dem Strafrecht Instrumente an die
Seite stellen, welche keine strafenden sind. Aus dieser Sicht
könnte man daran denken, dem Strafrecht immer mehr eine sub
sidiäre Rolle zuzuweisen, indem es nur noch eingreift, wenn an
dere Formen der gewaltfreien Konfliktlösung sich als nicht reali
sierbar erwiesen haben oder gescheitert sind
26
. Daraus folgt eine
neue Form von ultima ratio im Sinne eines surrogatorischen
Strafrechts.
Für eine letzte Betrachtung kehren wir zur Verbindung zwischen
Recht und Literatur und zu den verschiedenen Sichtweisen zu
rück, welche die Literatur einnehmen kann, wenn sie sich mit
dem Recht befasst. Zu Beginn haben wir gesagt, dass die werten
de Betrachtungsweise am Wesen des Rechtes selbst teilnimmt,
26 Dazu erlaube ich mir den Hinweis auf R. Bartoli, Riflessioni sulla
carità come paradigma giuridico, in: Quaderni fiorentini 2013, Nr. 42
(im Druck)
.
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während die enthüllende Betrachtungsweise ihr fremd ist. Dies ist
alles richtig
. Jedoch gibt es noch etwas, was im Hinblick auf die
se Sichtweise näher betrachtet werden muss. Wenn nämlich die
Funktion der Enthüllung des Rechts einerseits nicht Stellung zur
Rechtsposition bezieht, bezieht sie andererseits doch bei näherer
Betrachtung Stellung zum Recht selbst. In dem Augenblick näm
lich, in dem sie das Recht in seinem Wesen enthüllt, in dem Au
genblick, in dem sie das, was das Recht ist, entschleiert, öffnet
die Literatur unvermeidlich sich einer anderen Dimension, einem
anderen Recht, einer anderen Art, Gerechtigkeit unter den Men
schen zu üben.
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